Die Gemütslage der SS- und Polizeiangehörigen beim Morden

Von Rohatyn [Rogatin, Rogatyn] erfuhr ich erstmalig von meinem Großvater, Elias Hauster, in seinem Brief vom 07.10.1948. Dort lebten in 1939 noch 3.000 Juden, darunter sicherlich nicht wenige meiner Verwandten, die zu der Familie meines Urgroßvaters, Isak Hausthor, gehörten.

Klezmer-Kapelle aus Rohatyn im Jahr 1912

Nichts ist von diesen Menschen übrig geblieben, außer einem kleinen Mahnmal auf einem Hügel außerhalb von Rohatyn.


(GPS N 49°24'12.5" E 24°37'40.4")

Auf den Gedenktafeln in Hebräisch, Englisch und Ukrainisch steht: "Hier liegen 3500 Juden, Bürger aus Rohatyn und den benachbarten Gebieten, welche von den deutschen Nazis am 20. März 1942 brutal ermordet wurden. Gott habe sie selig."


Emanuel Ringelblum hat unter dem Tarnnamen Oneg Shabbat das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos gegründet und bis zu seiner Ermordung im März 1944 geleitet. Emanuel Ringelblum, wie auch andere Historiker, hatte früh erkannt, dass das jüdische Volk sich in einer bis dahin nie dagewesenen Situation befand, und dass es notwendig sei, die Ereignisse möglichst genau für die Nachwelt zu dokumentieren.


Trotz wiederholter Angebote, die Stadt und das Ghetto verlassen zu können, blieb Emanuel Ringelblum. Er wurde am 7. März 1944 mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und anderen Untergetauchten in seinem Versteck im Ghetto aufgestöbert. Einige Tage später wurden alle, zusammen mit den polnischen Beschützern, im Warschauer Pawiak-Gefängnis von Deutschen erschossen. Emanuel Ringelblum und seinen Mitarbeitern ist es zu verdanken, dass die grausamen Details zu der Ausrottung der Juden von Rohatyn überliefert wurden. Unter den 1680 Archivposten auf etwa 25.000 Seiten des Oneg Shabbat-Archivs, die - in Blechkisten und Milchkannen verborgen - den Krieg überdauert haben und aus den Trümmern des Ghettos geborgen wurden, findet sich auch ein Bericht über die Vernichtung der Juden von Rohatyn.


Ruta Sakowska, eine langjährige Mitarbeiterin des Jüdischen Historischen Instituts Warschau, hat diesen Bericht in ihrem Buch "Die zweite Etappe ist der Tod - NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer" veröffentlicht.

"Am 10. März 1942, zehn Tage vor dem Massaker, forderte der Landkommissar vom Judenrat in Rohatyn 120 Männer an, die in Gruppen zu 60 Personen außerhalb der Stadt, 1 km hinter dem Bahnhof auf einem Hügel Gräben ausheben sollten, angeblich für Zwecke der Luftverteidigung. Die Gräben hatten folgende Ausmaße: Länge 12 m, Breite 9 m und Tiefe 3 m. Am 20. März, einem außerordentlich frostigen Tag, begab sich die erste Gruppe von 50 Männern aus der Stadt zur Arbeit.

Am 20. März, morgens gegen 7.30 Uhr, fuhren acht deutsche Lastkraftwagen auf den Marktplatz. Aus ihnen stiegen schwerbewaffnete SS-Männer sowie ukrainische und blaue Hilfspolizei aus. Das ganze Ghetto wurde umstellt. Pünktlich um 8 Uhr früh begann die Aktion. Von allen Seiten gleichzeitig rückten SS-Angehörige, blaue Polizisten und Ukrainer in das Ghetto ein, durchsuchten alle Wohnungen und trieben die dort anwesenden Juden, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, vom Säugling bis zum uralten Greis, hinaus. Sie trieben die Menschen halb oder ganz nackt und barfuß auf die Straße. Wer die Befehle der Schinder nicht schnell genug ausführte, den töteten sie an Ort und Stelle. Die Tragödie wurde noch durch den Umstand vergrößert, daß allgemein angenommen wurde, es ginge nur um die Männer, die für das Arbeitslager eingefangen würden. Deshalb waren sie die ersten, die sich in den Kellern und auf den Dachböden versteckten. Das Resultat war, daß vorwiegend die Frauen, Kinder und Alten die Reihen der Opfer füllten. Die ganze Aktion verlief in sehr schnellem Tempo, so daß es schwierig war, sich über die entstandene Situation Orientierung zu verschaffen, aber schließlich endeten doch alle Fluchtversuche mit dem Tod. Die Opfer wurden auf den Marktplatz getrieben, wo sie den Befehl erhielten, sich mit dem Gesicht nach unten in den Schnee zu legen. Dutzende Menschen wurden mit dem Kolben erschlagen. Wenn jemand einen Eimer oder einen Topf in der Hand hielt, wurde er ihm auf den Kopf gedrückt und so lange mit dem Kolben darauf geschlagen, bis er unter schrecklichen Qualen starb. Wenn die enge Öffnung eines Milchtopfes nicht auf den Kopf des Opfers paßte, wurde ihm mit dem Kolben der Schädel zertrümmert, und wenn ein Teil mit der Hirnmasse abgeschlagen war, wurde das Gefäß auf den so 'verkleinerten' Kopf gesetzt. Solche und ähnliche makabre Szenen spielten sich auf dem Marktplatz in Rohatyn ab.

Die Opfer wurde in Gruppen mit Autos in Richtung der vorher ausgehobenen Gräben abtransportiert; zuerst wurden die Kinder und dann die Erwachsenen aufgeladen. Die Kinder wurden an den Haaren, den Händchen oder den Beinchen gegriffen und wie Holzklötze hinaufgeworfen. (Keiner der Schinder zeigte dabei eine Träne im Auge, keinen rührte sein Gewissen.) Weinen und Klagen, vermischt mit dem Geschrei und ordinären Flüchen der Mörder und den Schüssen aus den Karabinern, erfüllten das ganze Ghetto.

Die Autos hielten in einer Entfernung von etwa einem halben Kilometer von den Gräben. Mit Karabinern wurden alle auf den Todeshügel getrieben. Wer nicht Schritt halten konnte oder versuchte, sich durch Flucht zu retten, wurde auf der Stelle erschossen. Auf dem Hügel wählten die SS-Männer mehrere erwachsene Juden aus, die von allen die Wertgegenstände und die besseren Kleidungsstücke einsammelten. Viele Männer und Frauen blieben völlig nackt. Dann wurde ihnen befohlen, sich am Rand des Grabens aufzustellen. Sie wurden mit Maschinengewehren getötet. Es gab fast keine Verwundeten, geschossen wurde mit Dumdum-Geschossen. Die Kinder wurden überwiegend lebend in das Grab geworfen. Viele Menschen warfen sich vor der Gewehrsalve in das Grab. Eine Menge Leute wurde von den auf sie fallenden Leichen bedeckt. Nur wenige schafften es, nachdem das Massaker zu Ende war, aus dem Grab, aus der Schicht angefrorenen Blutes herauszuklettern, nervlich völlig zerrüttet, mit Erfrierungen zweiten und dritten Grades. Die jüdischen Arbeiter, die an diesem Tag zur Arbeit eingeteilt waren, mußten die Leichen gleichmäßig längs und quer durch das Grab stapeln. Um 18 Uhr wurde die letzte Salve auf die Arbeiter abgegeben. Mehr als 2000 unschuldige Juden waren den Märtyrertod gestorben.

In Rohatyn blieben nicht viel mehr als 1000 jüdische Bewohner. Die am Leben gebliebenen Juden gingen im Laufe des Sabbattages am 21. März heraus und sammelten die ungeordnet auf dem Marktplatz, auf den Straßen und auf dem Weg zum Hügel liegenden Leichen der Ermordeten ein und begruben sie in einem gemeinsamen Grab auf dem Hügel.

So wurde die Ausrottung des Judentums in Rohatyn durchgeführt."

Ein weiteres Zeugnis über Verlauf der Ereignisse in Rohatyn finden wir in dem Schwarzbuch von Wassili Grossmann und Ilja Ehrenburg "Der Genozid an den sowjetischen Juden".

"Am 20. März 1942 trieb die deutsche und die ukrainische Polizei erneut Juden auf dem Marktplatz zusammen. Mehrere Dutzend, die zu fliehen versucht hatten, wurden getötet. Am gleichen Tag wurden die Juden zu Gruben gebracht, die vorher in der Nähe des Bahnhofs ausgehoben worden waren, und dort erschossen. Insgesamt wurden 2000 Juden ermordet. Ukrainische Bauern raubten den Opfern ihre Kleider und anderen Besitz. In diesem Frühjahr wurden Juden aus Burschtyn, Kniginitsche und Bukatschowzy in das Rogatiner Ghetto gebracht. Am 2. September 1942 wurde eine zweite »Aktion« durchgeführt, bei der man 1000 Juden in das Vernichtungslager Belzec deportierte.

Im Oktober und November 1942 kamen die in den jüdischen Gemeinden Chodorow und Bolschowzy verbliebenen Juden in das Rogatiner Ghetto. Am 8. Dezember 1942 wurden weitere 1500 Menschen nach Belzec deportiert, wo die Älteren und Gebrechlichen auf der Stelle ermordet wurden. In der ersten Hälfte des Jahres 1943 kam es wiederholt zu solchen Tötungsaktionen. Das Ghettoareal wurde verkleinert. Im Mai 1943 ging eine Gruppe junger Juden in die Wälder, um die Möglichkeiten für einen Kampf gegen die Deutschen und ihre ukrainischen Helfershelfer zu erkunden. Die meisten aus der Gruppe kamen in das Ghetto zurück, da sie keine Waffen bekommen konnten.


Am 6. Juni 1943 wurde mit der Räumung des Rogatiner Ghettos begonnen. Die SS und ukrainische Polizei setzten die Häuser im Ghetto in Brand, um alle sich dort versteckt haltenden Juden hinauszutreiben. Die letzten Juden der Gemeinde wurden in Gruben auf dem Friedhof ermordet. Die Jagd auf die Überlebenden ging selbst noch nach der Auflösung des Ghettos weiter. Die Juden, die von Deutschen in Verstecken entdeckt wurden leisteten bewaffneten Widerstand. Alle verhafteten Juden wurden ermordet. Am 24. Juli 1944 wurde Rogatin von der Sowjetarmee befreit. Etwa 30 Juden hatten in Verstecken überlebt, die meisten von ihnen verließen bald die Stadt."



Nur ein Prozent der Juden von Rohatyn hat also den Holocaust überlebt; viele sind in das Vernichtungslager Belzec im April, September und Dezember 1942 deportiert worden. In Belzec, dem ersten von drei Vernichtungslagern der Aktion Reinhard, die allein zur physischen Vernichtung von Menschen bestimmt waren, wurden bis zu einer halben Million Menschen bestialisch ermordet.



Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers eine eindrucksvolle Gedenkstätte.

So weit zu den Opfern. Wie sieht aber zur gleichen Zeit der Gemütszustand der Täter aus?


In den Verhandlungsprotokollen des Nürnberger Prozesses erfahren wir dazu mehr.


In der Nachmittagssitzung des 13. Dezember 1945 äußert sich der Vertreter der Anklage auch zu Rohatyn:

MAJOR WALSH: "Auch in der polnischen Provinz Galizien wurden Juden in Ghettos gezwungen. Keine Worte aus meinem Wortschatz könnten die Verhältnisse annähernd so beschreiben, wie sie in dem Bericht des Generalleutnants der Polizei, Katzmann, an den General der Polizei Ost, Krüger, vom 3. Juni 1943 beschrieben sind. Der Bericht trägt den Titel »Lösung der Judenfrage in Galizien«.

Ich lege zum Beweis Dokument L-18, US-277, vor. Wir wollen von der Übersetzung der letzten drei Sätze auf Seite 11, beginnend mit dem Wort »Geradezu«, vorlesen:


»Geradezu katastrophale Zustände wurden in den Judenwohnbezirken in Rawa-Ruska und in Rohatyn angetroffen. Die Juden in Rawa-Ruska hatten aus Furcht vor der Aussiedelung ihre Fleckfieberkranken verschwiegen und in Erdlöchern untergebracht. Als die Aussiedelungsaktion begonnen werden sollte, wurde festgestellt, daß 3000 fleckfiebererkrankte Juden in diesem Wohnbezirk herumlagen. Zur Vertilgung dieses Seuchenherdes mußten sofort alle auf Fleckfieber geimpften Polizeibeamten herangezogen werden. Es gelang dann auch tatsächlich mit nur einem Mann Verlust, diese Pestbeule zu vernichten. Fast dieselben Zustände wurden in Rohatyn angetroffen.«

Von Seite 19 des gleichen Dokuments, L-18, letzter Absatz, möchte ich weiter zitieren.

VORSITZENDER: Ja.

MAJOR WALSH: »Da immer mehr alarmierende Nachrichten eintrafen über die sich mehrende Bewaffnung der Juden, wurde in den letzten 14 Tagen des Monats Juni 1943 in allen Teilen des Distrikts Galizien gleichzeitig mit den schärfsten Mitteln [an] die Vernichtung des jüdischen Banditentums [herangegangen]. Besondere Maßnahmen waren notwendig bei der Auflösung des jüdischen Wohnbezirks in Lemberg, wo die bereits demontierten Bunker eingerichtet waren. Hier mußte, um eigene Verluste zu vermeiden, von vornherein brutal eingeschritten werden, wobei mehrere Häuser gesprengt bzw. durch Feuer vernichtet werden mußten. Hierbei ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß anstatt der gemeldeten 12000 Juden insgesamt 20000 Juden erfaßt werden konnten. Mindestens 3000 jüdische Leichen, die durch Einnehmen von Gift Selbstmord begingen, mußten bei den Aufräumungsarbeiten aus allen möglichen Verstecken geborgen werden.«

Auf Seite 20 dieses Dokuments heißt es im dritten Absatz:

»Trotz der außerordentlichen Belastung, die jeder einzelne SS- und Polizeiangehörige während dieser Aktionen durchzumachen hatte, ist die Stimmung und der Geist der Männer vom ersten bis zum letzten Tage außerordentlich gut und lobenswert gewesen.«"

Wir müssen uns also um die Psyche der Täter nicht sorgen. Mit guter Stimmung und starkem Geist ist auch Hans Krüger, der "König von Stanislau" ans Werk gegangen, wie Dieter Pohl in dem von Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul herausgegebenen Buch "Karrieren der Gewalt" erläutert (auch in Englisch als pdf-Datei bei Yad Vashem).


Götz Aly weiss in einem SPIEGEL-Artikel vom 06.09.1999 ebenfalls Interessantes über Hans Krüger zu berichten:

"Am 11. April 1942 beschwerte sich Carl Lehmann, ein Galiziendeutscher, beim Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop tief erschüttert über die weithin öffentlichen Erschießungen von mehreren zehntausend Juden in und um Stanislau: »Dieselbe Taktik hat der Herr Krüger auch in anderen Ortschaften des Kreises Stanislau geübt, nämlich in Tatarow, Delatyn, Kossow, Kolomea, Rohatyn und anderen Städten, wo tausende von Juden wurden hingeschossen und lebendig begraben.«

Einer der Referenten Ribbentrops nahm das Schreiben mit folgender Randnotiz zu den Akten: »Über die gegen die Juden im Generalgouvernement ergriffenen Maßnahmen dürfte an zust. Stelle hinreichende Kenntnis bestehen.«

So und nur so konnte das Projekt 'Endlösung' funktionieren, das hohe SS-Führer und Ministerialbeamte am 20. Januar 1942 auf der Wannseekonferenz besprochen hatten: arbeitsteilig im normalen ministerialen Ablauf, kaltherzig in der sterilen Sprache der Maßnahme. Was Carl Lehmann vom Berliner Ministerialbeamten unterschied, war seine Herzensbildung.

Der in dem Brief erwähnte Herr Krüger hieß mit Vornamen Hans, damals 33 Jahre alt, Angehöriger der Sicherheitspolizei und 1941 Leiter des Grenzpolizei-Kommissariats Stanislau. Er war im Gymnasium gescheitert und hatte dann eine Landwirtschaftslehre absolviert; das Landgericht Münster verurteilte ihn 1968 zu lebenslanger Haft, aus der er erst 1986 entlassen wurde. Eine typische SS-Karriere in dieser Zeit - doch hinter den Schreibtischen saß der akademische Nachwuchs."

Von Belzec nochmals zurück nach Rohatyn! Die Täter haben gründlich gehandelt. Sie haben nicht nur die Menschen ermordet, sondern auch versucht, die Erinnerung an sie zu zerstören.



Auf einem der ältesten jüdischen Friedhöfe in der Ukraine wurden die Grabsteine von den deutschen Nazis in verbrecherischer Weise während des Zweiten Weltkrieges 1941 - 1945 entwendet.




(GPS N 49°24'27.8" E 24°37'02.0")

Dieser Bericht soll einen Beitrag dazu leisten, dass die Rechnung der Täter - auch nach mehr als 60 Jahren - nicht aufgeht.